Silva, Estonian National Museum, Tartu

Marcus Maeder/Roman Zweifel: Silva, Installation, Estonian National Museum, Tartu, 15.10. – 26.11. 2021

SILVA

Ein akustisches Observatorium von Marcus Maeder in Zusammenarbeit mit Roman Zweifel, 2021

Silva ist ein Panorama- und Surround Audio-Environment, in dem die Geräusche und Bilder eines Waldstücks im 100-jährigen Wald Järvselja bei Tartu in Estland abgespielt werden. Das Observatorium ermöglicht Beobachtungen, die im Wald selber nicht möglich wären: Zu hören sind neben den Geräuschen des Waldes auch physiologische Prozesse in den Bäumen und Geräusche im Boden. Zu diesem Zweck wurden drei Fichten mit speziellen Kontaktmikrofonen und ökophysiologischen Messgeräten versehen. Zudem sind mit einem speziellen Aufnahmegerät die Geräusche der Bodenfauna aufgezeichnet worden.

Alle Aufnahmen sind automatisch in Intervallen über einen längeren Zeitraum gefertigt worden – das bedeutet, dass im Observatorium der Tagesgang der Geräusche im Wald beschleunigt zu hören ist, entsprechend verändert sich auch das panoramische Bild des Waldes schneller als in Echtzeit. Auf diese Weise sind Veränderungen in der Soundscape des Waldes besser wahrnehmbar; denn Bäume und der Wald im allgemeinen leben in einer anderen zeitlichen Domäne als wir Menschen – um Zusammenhänge zwischen physiologischen Prozessen in Bäumen, den mikroklimatischen Bedingungen und der Aktivität der Bodenfauna beobachten zu können, muss das Abspielen der Aufzeichnungs- und Messintervalle (je nach Gerät 1-10 Minuten) beschleunigt werden, da diese Prozesse normalerweise sehr viel langsamer ablaufen. Die Aufnahmen werden vom System nahtlos ineinander geblendet, um einen konstanten Klangfluss zu ermöglichen.

Bei der Installation der Mess- und Aufnahmestation im Wald wurden in allen drei Bäumen, die mit ökophysiologischen Sensoren ausgestattet sind, Aufnahmen des Saftflusses gemacht. Die Abspielgeschwindigkeit respektive die Tonhöhe dieser Geräusche wird im System durch Messdaten des Stammdurchmessers gesteuert – diese Sonifikationsmethode nennt sich Audifikation. Der Saftfluss nimmt am Tag im Zuge der Transpiration (der Verdunstung von Wasser während der Photosynthese in den Nadeln der Bäume) ab und nachts zu, wenn sich die Gefässe und Zellen im Baum wieder mit Wasser füllen – spät in der Nacht wachsen die Bäume denn auch – wenn der Turgordruck in den Zellen höher als am Tag ist. Dementsprechend sind die Saftflussgeräusche tagsüber hochfrequenter als nachts, da am Tag der Unterdruck in den Gefässen des Baumes um einiges höher ist und das im Boden aufgenommene Wasser quasi durch die Gefässe zur Krone hinauf rauscht.

In jedem Baum wurden zudem Messungen der bioelektrischen Signale vorgenommen. Diese wären normalerweise auch nicht hörbar und sind im System als elektrisches Knistern sonifiziert, d. h. eine kurze Aufnahme einer elektrischen Entladung wird in ihrer Tonhöhe und Lautstärke durch die Messdaten des einzelnen Baumes gesteuert. Viele Lebensprozesse in Pflanzen werden durch elektrische Signale gesteuert – dementsprechend nimmt es uns als Forscher wunder, wann diese auftreten.

Weiter wurden im Wurzelraum der einzelnen Bäume Aufnahmen des sich im Boden und dessen Porenraum bewegenden Wassers gemacht. Die Tonhöhe dieser Aufnahmen wird wiederum durch Messdaten des Bodenwasserpotentials gesteuert: Tieffrequente Geräusche zeigen tiefe, hohe Geräusche hohe Werte/hohen Wassergehalt an.

In der Mitte des Waldstücks wurden die Geräusche der Bodentiere aufgezeichnet. Diese sind auf den untersten Lautsprechern des Systems zu hören. Unsere bisherige Forschung hat gezeigt, dass diese Geräusche vor allem vor der Tagesmitte zunehmen, wenn sich der Waldboden durch die auf ihn fallenden Sonnenstrahlen erwärmt und die Bodentiere aktiv werden.

Nachts nehmen die meisten Geräusche ab, der Wald «schläft», da viele Prozesse und Aktivitäten direkt an die Energie der Sonne gebunden sind.

Viele der hier geschilderten Geräusche sind beim ersten Hinhören nicht sofort wahrnehmbar. Nehmen Sie sich Zeit, beobachten und hören Sie genau hin. Das ist das, was auch wir Forscher als erstes tun, wenn wir ein Ökosystem untersuchen. Das Hören einer Soundscape muss jedes Mal wieder von neuem gelernt werden, auch von ökoakustischen Profis. Und mit der Zeit entdecken Sie plötzlich Zusammenhänge zwischen dem, was Sie in Silva hören und sehen – etwa, wenn erste Sonnenflecken sich auf dem Waldboden zeigen, die Geräusche im Boden zunehmen und der Saftfluss in den Bäumen sich beschleunigt.

Wir haben für unser Observatorium drei Fichten ausgewählt. Diese Baumart steht in Estland gleich in zweierlei Hinsicht unter Druck: Einerseits ist sie wie überall in Europa zunehmender Trockenheit ausgesetzt und wird in den nächsten Jahrzehnten aus den tieferen Lagen vermutlich verschwinden. Andererseits wird in Estland immer wieder darüber debattiert, wie intensiv diese Bäume, aber auch ganze Waldgebiete genutzt oder eben verstärkt geschützt werden sollen. Unsere Installation möchte hier einen anderen, intensiveren und ästhetischen Zugang zu einem intakten, heimischen Waldökosystemen ermöglichen – wo hörbar wird, wie sehr alle Organismen in einer komplexen (akustischen) Gemeinschaft zusammenleben und interagieren. In diesem Sinn will unsere Installation Silva für den Wald als fragiles und zu schützendes Ökosystem sensibilisieren.

Programmierungen: Ken Gubler

Öffnungszeiten Estnisches Nationalmuseum:
Mittwoch-Sonntag 10–18 Uhr
Montag/Dienstag geschlossen

Partner:

SILVA wird im Rahmen von World Wild Wald des Goethe-Instituts Estland präsentiert.

Eesti Ravha Muuseum

Järvselja Lehr- und Versuchwald

Eesti Maaülikool – Estnische Universität der Umweltwissenschaften

Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung